In der globalen Erektionsarchitektur, im Wettrennen um den Titel „Wer hat den Höchsten“ gibt es einen so treffenden wie entlarvenden Begriff:

Vanity height – die Eitelkeitshöhe

Das ist bei Wolkenkratzern die Spanne zwischen dem höchsten noch nutzbaren Raum und dem eigentlich überflüssigen Rest an Stahl und Beton, der nur noch reine Höhe generiert. 44 der derzeit 72 höchsten Gebäude der Welt qualifizieren sich allein wegen der Eitelkeitshöhe für die Kategorie „superhoch“ (ab 300 Meter). Das derzeit höchste Konstrukt der Welt, Burj Khalifa in Dubai (Touren in Dubai), verzeichnet bei 828 m lichter Höhe einen Eitelkeitsspielraum von 244 m, also 29 Prozent. So wird das völlig Nutzlose zum wertvollen Marketingfaktor.

131009__The-sky-is-the-limit_Wolken-Kratzer

Bis 2007 war das Taipei Financial Center – Spitzname: Taipei 101 – mit 508 m der höchste Wolkenkratzer der Welt. Mut zum Risiko: Der Turm steht in einer der aktivsten Erdbebenregionen, von den jährlich etwa neun Taifunen nicht zu reden.

Eine Stahlkugel zwischen dem 88. und 92. Stockwerk, 660 Tonnen schwer, vergoldet, mit einem Durchmesser von 5,5 m soll als Dämpfer den Schwankungen des Gebäudes entgegenwirken. Wie auch die Gesamtstruktur, die einem Bambusrohr nachempfunden wurde. Ich neige mein Haupt vor denen, die so ein Wunderwerk in die Welt setzen können.

Taipei 101 erfüllte seinen Zweck: Der Rekordbau brachte Taiwan auf die Wahrnehmungs-Landkarte, viele hatten zuvor noch nie von diesem Eiland gehört.

Mit rund 16,8 Metern pro Sekunde (60 km/h) schoss ich dem 89. Stockwerk  entgegen, im schnellsten Aufzug der Welt. Die Ohren hatten nicht einmal Zeit, Druck aufzubauen. Umgeben von ca. 30 Personen in einem Pferch namens Fahrstuhl, ein Fest für Menschen mit Platzangst. Im 91. Stock, auf 390 m, ist mit der Open-Air-Aussichtsplattform der höchstmögliche Punkt für Besucher erreicht.

Bei gutem Wetter erblickt das geneigte Auge die 2,8-Millionen-Stadt Taipeh und in der Ferne tropische Natur bis hin zum Meer. Also an Tagen, an denen ich nicht da war. Der Anblick, der sich mir bot bei pfeifendem Wind, war immerhin dramatischer.

Auf dem Weg zurück zum Fahrstuhl gibt es eine riesige Verkaufsebene für Juwelen und hochwertigen Schmuck. Wer nimmt sich im 87. Stockwerk Zeit für Gold, Rubine, Smaragde, Broschen, Armbänder, Halsketten? Greift auf 380 m der Höhenrausch? Nach meinen Beobachtungen ignorierten 99,9 Prozent der Besucher die Stände samt gelangweilten Verkäufern und eilten auf der Direttissima zum Fahrstuhl.

Nur einer hatte es noch deutlich eiliger, am 13. Dezember 2007: Felix Baumgartner sprang als Erster vom Taipei 101, ohne Genehmigung – hier das Youtube-Video.

Wegen Korruption verzögert sich die Fertigstellung des Jeddah Tower (zuvor „Kingdom Tower“ genannt) in Saudi-Arabien; ursprünglich sollte der Turm 2019 fertig sein, inzwischen wird Ende 2020 genannt, andere Quellen sprechen von 2023. Mit 1007 Metern Höhe wird das Gebäude das höchste der Welt sein und so etwas wie die Schallmauer der Architektur durchbrechen. Geschätzter Eitelkeitsanteil: ca. 30 Prozent. Was kommt dann? Schlägt Dubai zurück? Das Guinness-Buch der Rekorde war eine geniale Idee. Es hat das Kind nicht nur im Manne geweckt, sondern gleich in ganzen Städten, in Ländern, in Königreichen.

Verwandter Link: Die höchsten Hochhäuser der Welt

Die Links zu meinem Taiwan-Trip:

Trocken in Bangkok – Monsun in Taipeh
Taiwan – Der Park des Helden
Taiwan – Kaffeeklatsch in Taipeh
Taiwan – Kölle alaaf in Taipeh