“I have an idea that the only thing which makes it possible to regard this world we live in without disgust is the beauty which now and then men create out of the chaos.“

Bob Dylan

Kunst oder Blendwerk?

Jede erfolgreiche Kunst muss einen Touch Heroisches haben, so heißt es. Am Wat Rong Khun, wie der Weiße Tempel auf Thai heißt, muss ich aufpassen, vom Hang zum Heroischen nicht erschlagen zu werden. Ohne Sonnenbrille bin ich verloren in all dem Weiß – in Thailand ist das eigentlich eine Farbe der Trauer, an diesem Ort jedoch soll das Weiß die Reinheit des Buddha repräsentieren. Zahllose kleine Glasscherben auf rätselhaften Skulpturen spiegeln die Weisheit des Erleuchteten. Man sieht: Ich bin geblendet.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Normalerweise stürmen jeden Tag Tausende über die Anlage, chinesische Touristen vor allem. Normalerweise zahlt der Ausländer 100 Baht Eintritt. Doch wir kommen zu Corona-Zeiten, es ist leer, der Eintritt frei und die Maske Pflicht. Und es ist still, das schärft die Konzentration.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Auf Wikipedia heißt es schlicht und schnörkellos: „Der Wat Rong Khun ist eine private Kunstausstellung im Stile einer buddhistischen Tempelanlage in der Provinz Chiang Rai. Er liegt in der Nähe der Schnellstraße 1 zwischen den kleinen Orten Bua Sali und Pa O Don Chai. Der Bau begann 1997 und ist noch nicht fertiggestellt.“ Das ist trocken, das ist schmucklos, das kann jeder. Andere trauen sich ein profunderes Urteil zu. Da raunt es mal enttäuscht, mal hymnisch:

„Diese Anlage liegt in der Morgensonne wie eine riesige Torte aus gebackenem Eischnee. Alles ist grossartig, ueberwältigend, einzigartig, aber man kommt in diesem Gewirr nicht zur Ruhe. Abdrücke in der Seele hinterlaesst der Tempel nicht.“

Hochzeitstorte von Dalí (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

„Hier trifft das einstige Lanna-Königreich, auf Rokoko getrimmt, auf ein buddhistisches Disneyland auf Ritalin. Das ist nicht nur ein Meisterwerk und eine wundervolle Obsession, sondern auch ein visuelles Gedicht, ein angemessener Schrein für das Talent des Künstlers, drapiert mit uralten Allegorien und popkulturellen Rerenzen. Im Ergebnis eine von Dalì erträumte Hochzeitstorte, die in der Sonne Siams schmilzt.“

Wer kommt auf solche Sätze? Jason Gagliardi heißt der Mann, ein australischer Journalist und PR-Experte.

Was sagt der Künstler?

„Ich bin nur ein einfacher Maler“, sagt Chalermchai Kositpipat, „nur ein kleiner Teil der menschlichen Gemeinschaft, der darauf hofft, seinen winzigen Beitrag zum Wohl des Planeten Erde beizusteuern.“ Bescheiden und doch von seinem Können überzeugt – so spricht ein Nationaler Künstler Thailands (das ist eine Auszeichnung und ein offizieller Titel).

Pappkamerad am Weißen Tempel: Chalermchai Kositpipat (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Doch der Meister kann auch anders, dann rührt er mit der großen Kelle an. Den Tempel nennt er „einen lebendigen Schatz, ein Meisterstück von Weltrang, das jeder Mensch einmal im Leben sehen muss. Ich biete der gesamten Menschheit Seelennahrung.“ So hört es sich an, wenn er in Schwung Form kommt.

1997 hat Kositpipat mit dem Bau der Anlage begonnen; bis heute sollen die Kosten bei knapp 50 Millionen Thai Baht liegen, etwa 1,36 Millionen Euro. Ausschließlich finanziert durch Spenden, sagt Wikipedia (deutsche Ausgabe). Aufgebracht vom Künstler persönlich, sagt Wikipedia (englischsprachige Ausgabe). Der ist häufiger Talkshowgast im Thai TV, eine Berühmheit in seiner Heimat und leicht zu verärgern. Seine Bilder erzielen auf Auktionen Preise bis zu 500 000 Baht, etwa 13 000 Euro. Kleingeld auf dem internationalen Kunstmarkt, aber es ernährt den Mann.

Kein Bild ersetzt die direkte Erfahrung

Wir Laien aber wandeln mit offenem Mund über das Gelände und staunen, ohne zu urteilen. Über die Jahre haben wir schon viele buddhistische Tempel gesehen, aber so einen noch nicht. Wir kennen den Weißen Tempeln, in Magazinen ist er ein häufiges Motiv. Doch kein Foto ersetzt die direkte Erfahrung – sie bleibt das zentrale Element für jeden Reisenden.

Zwei Fangzähne auf dem Weg zu Himmel und Hölle (Foto: Faszination Fernost/Disco)

Auf dem Weg zum Inneren des Tempels stolpern wir durch Götter und Monster und versuchen, auf der Brücke zur Hölle den 500 ausgestreckten Armen auszuweichen, die menschliches Begehren symbolisieren, die Ursache allen Leidens.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Am Ende der Brücke erreichen wir das Tor zum Himmel, bewacht von zwei mächtigen Gestalten: Der TOD und RAHU bauen sich vor uns auf; sie sind es, die über das Schicksal der Menschen entscheiden.

RAHU (links) und der TOD (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Endlich angekommen in der rot und golden ausstaffierten Gebetshalle (Ubosot), geht der Kampf zwischen Gut und Böse in die nächste Runde. George W. Bush und Osama Bin Laden sind angetreten, New Yorks brennende Zwillingstürme drängen sich ins Bild, Elvis Presley ist irgendwo, Superman ebenfalls, der Terminator auch und Po aus Kung Fu Panda, Ronald McDonald, Hello Kitty, Batman, Keanu Reeves als Neo, Yoda und ein Angry Bird. Aber keine Spur von Uwe Seeler und Jim Knopf.

Foto: My Chiang Mai Travel

Wie passt das alles zusammen? Mit den Ikonen westlicher Popkultur will Kositpipat zum einen die Illusion aller Begierden demonstrieren und zugleich eine erstarrte, rigide buddhistische Tradition aufschrecken. Fotografieren ist verboten im Ubosot, doch die Guides vom Reisebüro My Chiang Mai Travel haben einen Weg gefunden, das dortige Geschehen ins Bild zu setzen.

Der Dhamma-Garten

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Dhamma oder Dharma werden die Lehren des Buddha genannt. Sie gelten als einfach, hören sich meist aber keineswegs so an. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Rollen den Menschen, Tieren und Fabelwesen im Dhamma-Garten zugedacht sind.

Waterclosegate – China war nicht amüsiert

Gold ist die Farbe der Notdurft (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

In all dem Weiß gibt es auch güldene Kontrapunkte. Das Haus, das die Besuchertoiletten beherbergt, ist ganz in Gold gehalten. Davor posieren oft mehr Gäste für Selfies als vor dem Haupttempel. Die Toiletten waren der Grund, dass Kositpipat vor Jahren auf die chinesischen Touristen schlecht zu sprechen war. Obwohl sie immerhin siebzig Prozent der Besucher stellen und die Anlage mit finanzieren. Doch sie verwandelten die Toiletten in Kloaken, verteilten Abfall auf dem ganzen Gelände und dachten gar nicht daran, sich in Schlangen geordnet anzustellen.

In der Folge kontrollierte der Künstler persönlich die Pässe der Menschen vor dem Eingang, die (Festlands-)Chinesen schickte er zurück zu ihren Bussen. Dabei bescheinigte er den Vertretern einer der ältesten Kulturen der Welt „Barberei“ und die Unfähigkeit, in zivilisierter Weise Toiletten zu benutzen. Das war ein Schlag in die Weichteile des chinesischen Nationalstolzes und belastete die diplomatischen Beziehungen zu Thailand. Die traditionellen Medien und ihre sozialen Filialen hingegen fanden den Clash der Kulturen in beiden Ländern höchst unterhaltsam: Das „Waterclosetgate“ war nicht mehr aufzuhalten.

Die Hälfte der Besuchertoiletten war im Thai-Stil erbaut; die Nutzer mussten auf den Fersen hocken, um ihr Geschäft zu verrichten. Den Chinesen war diese akrobatische Stellung neu, und es fand sich nirgends Personal, ihnen zu erläutern, was sich ziemte und was nicht. Zudem fehlten Schilder mit chinesischen Zeichen.

Erst auf Anraten seines Sohnes änderte der Hausherr seine Haltung. Er investierte 10 Millionen Baht, um die Kauer-Toiletten durch Sitztoiletten zu ersetzen und stellte vier Mitarbeiter ein, die chinesisch sprachen. Den Reinigungskräften finanzerte er Chinesisch-Kurse, damit sie sich mit den Gästen unterhalten konnten. Die Touristen aus China kamen wieder in Scharen, ehe das Coronavirus „Stopp“ rief.

Und noch einmal: Gold (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Ein Leben reicht nicht: Fertigstellung 2070

Das heftige Erdbeben von Chiang Rai im Jahre 2014 beschädigte den Weißen Tempel erheblich. Immerhin bieb die Kernstruktur intakt. Chalermchai Kositpipat nahm das Unglück als Zeichen, noch einmal durchzustarten und das geschredderte Kunstwerk Stück für Stück wieder zusammensetzen. Um 2070 herum soll die Anlage komplett sein; Kositpipat ist dann 115 Jahre jung – wer solche Bauwerke kreiert, dem ist alles zuzutrauen.

Der Künstler, in Ehren ergraut (Foto: The bug that bit me)

Neun separate Komplexe plant der Meister, darunter eine Halle für buddhistische Reliquien, eine für Meditationen, eine Unterkunft für Mönche und eine Kunstgalerie. Es ist Chalermchais Vision vom buddhistischen Himmel auf Erden und sein Lebenswerk. Das Werk eines Lebens, das sich keine Grenzen setzt.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff