Ein Wiedersehen bei den verlorenen Büchern

„Es kommt der Tag, da will man in die Fremde
Dort wo man lebt, scheint alles viel zu klein
Es kommt der Tag, da zieht man in die Fremde
Und fragt nicht lang, wie wird die Zukunft sein.“

Freddy Quinn, „Unter fremden Sternen“

Neu aufgelegt nach 55 Jahren

2013, ich lebte inzwischen in Chiang Mai, ging ich mal wieder in den wunderbaren Second-Hand-Buchladen „The Lost Book Shop“, Ratchamanka Road. Ich liebe Bücher, habe sie immer geliebt. Doch es passiert selten, dass mir beim Anblick eines ganzen Stapels Adrenalin durch die Adern schießt. Vor mir türmten sich gleich neun Exemplare eines Buches, das 1957 erstmals erschien und 2012 neu aufgelegt worden war: „The World of Suzie Wong“.

Gänsehaut.

In der Nacht habe ich das Buch gelesen. Erstmals. Warum kam es nach 55 Jahren wieder auf den Markt? Schließlich leben wir in einer Zeit, da schon morgen out sein kann, was heute noch angesagt ist. Richard Masons Roman ist auf eine bestimmte Weise zeitlos. Romanzen kennen eh kein Verfallsdatum, Exotik geht immer, und fast alles, was der Handlungsrahmen eher beiläufig über Mentalität und Kultur Asiens verrät, trägt überraschenderweise noch heute.

Meine Aufregung aber entsprang einer Kindheitserinnerung. Ich dachte an den Film zum Buch, der 1960 in die deutschen Kinos kam, mich beglückte und verunsicherte – obwohl ich ihn nie sah.

Eine typische Fernbeziehung

„Die Welt der Suzie Wong“ spielt im wuseligen Hongkong der Fünfzigerjahre. In dieser prüden Ära brach die Liebesgeschichte zwischen einem englischen Maler und einer Hure mit goldenem Herz im Westen gleich drei Tabus: Sex, Prostitution, gemischtrassige Beziehung – das Werk hätte auch auf dem Index landen können. Tabubrüche haben sich oft als Erfolgsrezept bewährt, so auch hier. Suzie Wong verkörperte Asiens Erotik und Exotik, so eroberte sie Deutschlands Kinosäle.

Für meine zwölf Jahre kam der Film zu früh, das Plakat jedoch gerade recht. Suzie Wong, wenngleich eine Fernbeziehung, war eine meiner ersten bewussten Berührungen mit dem Fernen Osten. Von einer Litfasssäule schaute sie auf mich herab und ich war hin und weg. Eigentlich schaute sie an mir vorbei, aber wenn ich die Augen zusammenkniff …

Von dieser Frau wollte ich mehr wissen. Ich stöberte in Zeitungen und Magazinen, später würde ich so etwas Recherche nennen. Die Kritiker schrieben von einem „chinesischem Taxigirl“ und der „Halbwelt der leichten Mädchen von Hongkong.“ Natürlich wusste ich, was ein Taxi ist, auch Girls waren mir gelegentlich über den Weg gelaufen. Der Verweis auf das geringe Gewicht der Mädchen allerdings irritierte mich genauso wie die Kombination Taxigirl.

1960 war nicht nur meine Familie vom Zeitalter der Aufklärung noch weit entfernt. Die Eltern, die alles zu wissen schienen, ergingen sich in vagen Andeutungen, wenn sie dem Nachwuchs Zwischenmenschliches verklickern sollten. Noch gab es kein Internet, an das sie den Job hätten auslagern können. Durch Zufall erfuhr ich, dass ein entschlossener Vater aus der Nachbarschaft seinen 16-jährigen Sohn mit ins Bordell genommen hatte, wo der Stammhalter kompetent ins Thema eingeführt wurde. Ich wäre neidisch gewesen, hätte ich nur gewusst, worum es ging. Später, viel später habe ich dann selbst herausgefunden, was ein Taxigirl ist.

Nancy Kwan – mehr als ein Sex-Symbol

Im wahren Leben hieß Suzie Wong Nancy Kwan. Die 21-jährige Schauspielerin erhielt für ihre allererste Rolle gleich den Golden Globe Award. So wurde sie ohne Absicht eine wichtige Wegbereiterin für die Akzeptanz asiatischer SchaupielerInnen in Hollywood.

Auf Nancy Kwans blutroter Homepage heißt es selbstbewusst: „Hongkongs Geschenk an Hollywood“. Sie war stets mehr als ein Sex-Symbol und blieb eine erfolgreiche Schauspielerin. Noch heute, als elegante 80-Jährige, ist sie als Sprecherin der Wählervereinigung Asian American Voters Coalition politisch aktiv.

Geboren in Hongkong als Tochter eines chinesischen Vaters und einer schottischen Mutter wurde sie über Nacht zum Inbegriff jener hintergründigen Erotik, die Westler gerne mit Asiatinnen verbinden. Für den 12-jährigen Jungen in Hamm war Nancy/Suzie der Auslöser, dass für ihn die Liebe immer durch die Augen gehen sollte und nicht durch den Magen. Über Hongkong wusste ich damals nichts – aber alles, was ich nicht wusste, war plötzlich aufregender als das, was ich kannte.

Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong

Als Suzie Wong den Duft der weiten Welt in die Kinosäle trug, hatte das Fernweh der Deutschen bereits eine gewisse Reichweite gewonnen. Lange lag die Endstation Sehnsucht noch knapp jenseits der Alpen, doch Rudi Schurickes „Capri-Fischer“ hatten nun ausgefischt. 1960 schwammen die Germanen in ihren Träumen bereits deutlich weiter raus. Freddy Quinn stürmte die Charts mit dem Song „Unter fremden Sternen“:

„Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong,
hab ich Sehnsucht nach der Ferne.
Aber dann in weiter Ferne,
hab ich Sehnsucht nach zuhaus…“

Das ewige Zerren zwischen Abenteuer und Sicherheit, ein sehr deutsches Zerren auch, bei dem das Abenteuer immer einen schweren Stand hatte. Ich hingegen hätte schon damals gerne eine Kabine auf dem weißen Schiff belegt.

Auf den Spuren Suzie Wongs

Richard Mason kam nach Hongkong auf der Suche nach Inspiration. Nach seinem Erfolgsroman „Denn der Wind kann nicht lesen“ war dem britischen Autor lange Zeit nichts mehr eingefallen.

Das Luk Kwok Hotel damals und heute

Auf Empfehlung eines Freundes quartierte er sich im Luk-Kwok-Hotel ein, direkt am Wasser, mit Blick auf den Victoria Harbour. Schnell merkte er, dass die anderen Zimmer auf seinem Flur immer nur stundenweise belegt waren: „Und schon hatte ich die Idee für mein Buch.“

Mitte 2018 besuchte ich Hongkong mit meiner Frau Toey. Die Chance, noch Hinweise auf die Welt der Suzie Wong zu entdecken, war gering. Dennoch buchten wir ein Hotel in Wan Chai, in „ihrem“ Viertel.

Fotos Faszination Fernost/B. Linnhoff

Wie erwartet, waren alle Spuren längst unter dem Asphalt verschwunden. Das Hotel Luk Kwok steht zwar immer noch in der Gloucester Road, aber nicht mehr direkt am Wasser. Wo einst die Taxigirls mit den Matrosen aus aller Welt tanzten, findet der literarische Pfadfinder heute eine Vier-Sterne-Herberge, in der „bizinessmen“ in maßgeschneiderten Anzügen lukrative Deals verhandeln. Wolkenkratzer verdecken den Blick auf den Victoria Harbour.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Unsterbliche Suzie

Zwei Blöcke südlich beginnt Hongkongs inoffizielles Rotlicht-Viertel, im Volksmund „Suzie-Wong-District“ genannt. So ist das Mädchen aus Wan Chai unsterblich geworden – als Schutzpatronin der Taxigirls. In den Fünfzigern hätten Suzie Wongs reale Kolleginnen eine Schutzpatronin dringend benötigt – die meisten starben an einer Kombination von Opium, Krankheit, Armut und gebrochenem Herzen.

Post Scriptum

Das Buch: „Die Welt der Suzie Wong“ von Richard Mason

Mehr zum Buch und zum Autor: „60 Jahre danach (englischsprachig)

„Dieser Roman ist mit Kraft, echtem Gefühl, mit Charme und menschlicher Güte erzählt. Man kann sich ohne Gewissensbisse von der Lektüre hinreißen und bezaubern lassen.“ Wolfgang Kraus, Hannoversche Allgemeine Zeitung

Der Bezirk Wan Chai