Angelo, der Engel, wies mir den Weg

Für einen Engel war der Mann allerdings ziemlich athletisch. 1994 tourten wir im Auftrag von Mercedes-Benz zusammen durch Deutschland und gastierten in diversen Niederlassungen. Mein Job war es, Mercedes-Rennfahrer (Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft) zu interviewen, der gebürtige Italiener Angelo Petruccelli machte als Pantomime mit. Eine Kartbahn, und ein Kasperletheater für die Kinder komplettierten das Angebot.
Mit Lederkäppi und Riesenbrille saß Angelo über Stunden in einem Mercedes-Modell, regungslos. „Selbst eine Fliege auf der Nase kann ihn nicht aus der Ruhe bringen“, staunte die Reporterin der BILD am SONNTAG in ihrer Story „Bewegen verboten“. Angelo meditierte im Auto: „Ich betrachte mich von außen, spüre so das Insekt gar nicht.“
In meinen Pausen schaute ich Angelo zu, wie er sich nicht bewegte. Einige Kinder trauten sich zögernd an die wächserne Gestalt mit den markanten Zügen heran; sobald der stumme Mime auch nur mit den Augen rollte, flüchteten die Kids kreischend in die Arme ihrer Eltern.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, unter Angelos Anleitung ein wenig von seiner Kunst zu lernen. „Zur Ausbildung gehören auch Tanz und Akrobatik“, erklärte er mir, und so konzentrierte ich mich wieder ganz auf meine Interviews.
Auch harmlose Fragen können Schicksal spielen
Im Herbst 1994, nach einer Veranstaltung in Lüneburg, aßen wir zusammen zu Abend. Zum Dessert tischte mir Angelo die Frage auf: „Hast du im Dezember schon was vor?“ Hatte ich nicht. „Was hältst du von Thailand?“ In jenen Tagen befand ich mich gerade im emotionalen Schraubstock einer persönlichen Krise. In solchen Phasen gehe ich gerne geografisch auf Distanz, um meine Lage mal mit Abstand zu betrachten. Thailand kam mir daher wie gerufen.
Am 2. Dezember war es so weit. Auf dem Weg zum Düsseldorfer Flughafen stellte ich fest, dass ich mir für den LTU-Flug MD 11 nach Bangkok eine falsche Abflugzeit gemerkt hatte, nicht zum ersten Mal. So traf ich erst am Gate ein, als die Passagiere schon im Flugzeug saßen. Kollege Petruccelli, mit den Nerven zu Fuß, hatte mich als Reisepartner bereits aufgegeben. Vier Wochen später, das ahnte ich da noch nicht, würde ich aus identischem Grund um ein Haar den Rückflug verpassen.

Ich ahnte erst recht nicht, wie sehr der erste Thailand-Trip mein Leben umkrempeln würde. In meinem Rucksack reiste das Geschenk eines Freundes mit, der um mein aktuelles Befinden wusste. „Die Mitte finden“ hieß das Buch. Autor Ian Gawler versprach im Klappentext „Schritte zur Gelasssenheit, zu innerer Ruhe und Gesundheit“. Gesund war ich, der Rest ging mir ab und von der Mitte war ich weit entfernt.
30 Grad im Dezember
Ein Winter, wie ich ihn mochte: In Bangkok landeten wir auf dem Flughafen Don Mueang, bis 2006 der einzige Airport der Hauptstadt.
Von der internationalen Ankunftshalle fuhren wir mit dem Taxi zum nationalen Abflug. Für Angelo Routine. Sechs Monate im Jahr lebte er in Thailand, auf Koh Phangan. Ein einfaches Leben, das er sich mit seinen Aufträgen in der anderen Jahreshälfte verdiente.
Unsere erste Station aber war Phangans Nachbarinsel Koh Samui, eine Stunde Flug von Bangkok entfernt.
Einen schöneren Flughafen hatte ich auf all meinen Reisen noch nicht gesehen. „The Most Beautiful Airport in the World“ nennt er sich noch heute auf der eigenen Website.
Bill`s Bungalow am Lamai Beach
Fotos Faszination Fernost/B. Linnhoff
Unser Quartier lag am südlichen Ende des Lamai-Strandes, das Restaurant wenige Schritte vom Meer entfernt. Singha-Bier, Mekong-Whisky, Zigaretten, Gespräche: Der erste Abend dauerte bis morgens. Ich fühlte mich ganz und gar nicht wie zu Hause, aber sauwohl.
Bills kleine Hütten verdienten nicht einen einzigen Stern, obwohl die Einrichtung komplett schien: Bett. Tisch. Stuhl. Kleiderbügel. Die Dusche spendete kaltes Wasser, es gab keine Toilettenspülung, man musste mit einer Schöpfkelle Wasser aus dem Bottich nachgießen.
Zweiter Tag. Für 100 Baht/Stunde die erste Thai-Massage meines Lebens. Nur zu vergleichen mit der Entdeckung eines neuen Kontinents. Bis heute zuverlässige Quelle reinen Wohlbefindens.
Noch waren längst nicht alle Wege befestigt in Lamai. Am Abend navigierten wir uns mit der Taschenlampe durch ein paar Büsche, um zu den Bars im Ortskern vorzudringen. Im „Bauhaus“ gab es TV-Fußball aus England, Italien und Deutschland – es blieb die einzige Nabelschnur zur Heimat.
Als ich am nächsten Tag ein paar Liegestütze machte und dabei eher zufällig unter mein Bett schaute, guckte ein Gecko interessiert zurück – die nachtaktive Variante, bis zu 35 cm groß und „Tokeh“ genannt, nach dem Ruf der männlichen Exemplare. Ihnen eilt der Ruf voraus, äußerst kräftig zubeißen zu können. Ihr wissenschaftlicher Name lautet übrigens Gekko gekko – so sieht es aus, wenn Wissenschaftler ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen.

Ich ging den Hügel hinunter zur Rezeption und fragte, wie ich das farbenfrohe Tier eventuell aussiedeln könnte. „Das ist unser Hausgecko“, wurde mir beschieden, „dein Bungalow ist eigentlich seiner.“ Auf den Wunsch nach einer anderen Hütte verzichtete ich, um mir nicht auf Anhieb den Ruf eines tropischen Weicheis einzuhandeln. Also akzeptierte ich Tokeh als WG-Genossen, es war eh sein Bungalow. Da ich nicht wusste, wie er „nachtaktiv“ interpretierte, hatte mein Schlaf eine gewisse Leichtigkeit – Tiefe wäre mir lieber gewesen.
Kein Komfort, aber das Meeresrauschen im Ohr. Noch gab es weder Internet noch Smartphone, bei Bill im Osten Samuis blieb die Welt außen vor. Ideale Bedingungen, um die ersten Seiten auf dem „Weg zur Mitte“ zu lesen. Schon nach wenigen Tagen wollte ich nicht mehr ausschließen, dass ich hier, im Golf von Thailand, wieder ins Gleichgewicht kommen könnte. Vielleicht stimmte es ja, dass mit jeder Krise auch Abwehrstoffe einschießen.


Nach einer Woche verließen wir Samui und setzten mit der Fähre über zum Nachbarn Koh Phangan. Bill`s Bungalows gibt es noch heute, deutlich komfortabler nun und unter dem Namen Bill`s Resort.
Mehr zu Koh Samui: Go West – die andere Seite von Koh Samui
Mit 46 Jahren hatte ich das Verfallsdatum für Backpacker zwar deutlich überschritten, doch Leben nach Zahlen war nie mein Ding.